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Diskurszone Ost – Reparatur und Revolution

03.05. – 30.06.2024

Öffnungszeiten Fr – So, 15 – 18 Uhr

DIE BEGLEITVERANSTALTUNGEN IM ÜBERBLICK

Sonntag, 26.05.2024, 10 – 13 Uhr:
Kunst und Psychoanalyse im Dialog, Workshop mit Dr. Judith Christine Enders

Anmeldung bis 24.05.2024 unter judithenders@yahoo.de

Freitag, 07.06.2024, 19 – 20 Uhr:
Walk and Talk, Ausstellungsgespräch mit Eric Meier, Erik Niedling, Prof. Dr. Melanie Jaeger-Erben und Sven Gatter

Samstag, 15.06.2024, 18 – 20 Uhr:
Grenzenlos, Gesprächsabend über Ostdeutschland, Westdeutschland und Diskriminierung mit ManuEla Ritz und Florian Fischer

Samstag, 29.06.2024, 18 – 20 Uhr:
Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat, Leseperformance mit Annett Gröschner, Peggy Mädler und Wenke Seemann

Eine Einführung in die Ausstellung von Natascha Pohlmann 

Zwischen blühenden Landschaften und grauem Waschbeton weht der Wind der Veränderung. Fortlaufend im Umbruch begriffen bewegt sich Ostdeutschland seit über 30 Jahren im Spannungsfeld zwischen Reparaturbemühungen und verschiedenen Revolutionsbegehren. Die Friedliche Revolution von 1989 bewirkte eine Transformation der Gesellschaft in allen Bereichen des Lebens, die Ostdeutschland bis heute gleichsam zu einer Probebühne für die Bewältigung von Strukturwandelherausforderungen als auch zum Versuchsfeld für politische Radikalisierungsstrategien macht. Angesichts wachsender Demokratiefeindlichkeit stellt sich aktuell die Frage, von wem der Revolutionsbegriff vereinnahmt und mit welcher Zielsetzung zur Revolution aufgerufen wird. 

Im Jahr 2024 werden nicht nur das Europäische und zahlreiche kommunale Parlamente neu gewählt, sondern auch die Landtage von Brandenburg, Thüringen und Sachsen. Wird dadurch Ostdeutschland, die vermeintliche Peripherie Deutschlands, zum Prüfstein für die gesamte Republik? Werden dort für die kommenden Jahre politische Kräfte in Regierungsverantwortung kommen, die in der Vergangenheit systematisch ein antidemokratisches, rechtsextremes Grundrauschen etablierten, sich dafür auch die kollektiven Erinnerungen der Ostdeutschen zu Nutze machen und fortan daran arbeiten wollen, wichtige demokratische Institutionen lahmzulegen? Oder hat sich in Ostdeutschland seit 1989 eine Transformationskompetenz entwickelt, die es ermöglicht, die aktuellen gesellschaftlichen Spannungen zu überwinden und konstruktiv die drängenden Herausforderungen unserer Zeit anzugehen? 

Die fotografischen, videobasierten und skulpturalen Werke der Künstler Eric Meier, Erik Niedling und Sven Gatter, die in der Ausstellung „Diskurszone Ost – Reparatur und Revolution“ erstmals gemeinsam gezeigt werden, spiegeln diese Fragen wider und eröffnen Denkräume jenseits konventioneller Erklärungsmuster. Meier, Niedling und Gatter, die ein tiefempfundenes Interesse an der Entwicklung Ostdeutschlands eint, arbeiten seit vielen Jahren in einem stetigen Wechsel zwischen dem selbstgewählten Lebensort Berlin und ihren jeweiligen Herkunftsgegenden in Brandenburg, Thüringen und Sachsen-Anhalt. Mit ihren medienübergreifenden Arbeitsansätzen finden sie zu künstlerischen Werken, die sich formalästhetisch erstaunlich gut ergänzen. Die Blickwinkel allerdings, aus denen heraus sie sich ihrem künstlerischen Feld nähern, unterscheiden sich deutlich.

Eric Meier (*1989 in Ost-Berlin, aufgewachsen in Frankfurt/Oder, lebt in Berlin) untersucht die zivilisatorischen Spuren und Zeichen der postsozialistischen Transformation, thematisiert das Scheitern und fragt nach sozialer Identität. In seinen Fotografien und Skulpturen ist das Kaputte wie das Spekulative konzeptionell verankert. Sie zeugen von individuellen Mythologien und seinen Erfahrungen als Nachwendekind in Frankfurt an der Oder ebenso wie von kollektiven Neucodierungen und Überformungen. 

Zur Einheit (2022) etwa lässt sich als Reflektion eines zunehmenden Alkoholismus in Ostdeutschland nach der deutschen Wiedervereinigung deuten. Weggeworfene Flaschen von billigem Schnaps erhitzt er so stark und lange, bis sie schmelzen und schlaff ineinander sacken wie die Menschen, die sie einst ausgetrunken haben. 

Spirit I (2022) hingegen kommt mehr als Schreckgespenst, denn als geistiges Getränk daher. Mit der Schere bearbeitet und mit Textilhärter zu einem an eine Gruselmaske oder Ku-Klux-Klan-Kapuze erinnerndes Objekt geformt, verwendete er ein altes Stück Textil, wie es in der DDR von der Nationalen Volksarmee (NVA) für Kampfanzüge genutzt wurde. Mehr als 20 Jahre lang gebrauchte die NVA die „Einstrich – Keinstrich“-Tarnkleidung, obwohl diese kaum Tarnwirkung hatte. Indem er das Textil erstarren lässt, scheint der Künstler die Ignoranz dieses Vorgehens als Zeugnis einer festgefahrenen Geisteshaltung mit einem Augenzwinkern zu kommentieren. 

Meiers Vorliebe für ironische und kryptische Werktitel offenbart sich auch in seiner jüngsten Arbeit. Für die Titelgebung seiner fotografischen Serie VLLHLL (2024) griff er auf ein insbesondere aus der Pop- und Hip-Hop-Kultur bekanntes rhetorisches Stilmittel zurück, bei dem Botschaften durch das Weglassen von Vokalen gleichermaßen verkürzt wie verschlüsselt werden. In dem Wissen, dass die Neue Rechte dasselbe Mittel verwendet, um verfassungswidrige Parolen zu verschleiern und VLLHLL ausgesprochen „Valhalla“ ergibt, stellt er in seiner Arbeit Bezüge zu konkreten Ereignissen der jüngeren Zeitgeschichte her. So lässt sich zum einen vermuten, dass Meier, indem er mit dem Titel die letzte Ruhestätte germanischer Krieger zitiert, auf die rechtsextreme Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) verweist, die in einer Garage ihre Mordserie plante und Bomben baute. Zum anderen öffnen die Garagentore, durch deren Lücken das Licht wie durch Einschusslöcher fällt, einen breiten Assoziationsraum, der uns letztlich im Ungewissen darüber lässt, was sich im Innen und Außen abspielt.

Erik Niedling (*1973 in Erfurt, lebt in Erfurt und Berlin) setzt sich in seinen neuesten konzeptuellen Arbeiten aus den Werkkomplexen Dokumentationszentrum Thüringen (2022) und Summer of Anarchy (2022) exemplarisch mit Thüringen auseinander, das seit 1990 zu einem Sammelpunkt für Rechtsradikale und Neonazis wurde. Ausgehend von seiner eigenen Geschichte als jugendlicher Anarchist recherchiert und verarbeitet er für seine Fotografien, Videoarbeiten, zeichenhaften Malereien und Skulpturen Materialien über aktuelle soziale Bewegungen, die den Bruch mit dem bestehenden Gesellschaftssystem suchen. 

So präsentiert er in seiner Videoarbeit mit dem verheißungsvollen Titel In the Heart of Germany (2022) seine persönliche Geschichte als zentrales Fragment einer Geschichtserzählung über Deutschland. Ausgehend vom geteilten Deutschland, über die Zeit der Wiedervereinigung bis zu den Aktivitäten der „Anarchistischen Fraktion“ in Erfurt 1990 erzählt der Film was war, was ist und was sein könnte. Eine heutige Begegnung zwischen Niedling und einem alten Mitstreiter, der inzwischen der QAnon-Bewegung angehört, gibt einen Ausblick auf eine unheilvolle Zukunft. Vorgetragen in Englisch von einer sonoren Frauenstimme aus dem Off und zusammengestellt als Montage ruhiger Sequenzen menschenleerer Landschaftsszenerien Thüringens, gehen Text und Bild eine spannungsvolle Beziehung ein. Erzählerische Stilelemente des Historien-, Märchen- und Dokumentarfilms aufgreifend, spielt Niedling mit den Erwartungshaltungen der Zuschauenden. Er kreiert das ambivalente Bild einer gleichsam idyllischen wie postapokalyptischen Welt, mit welchem er auf das diffuse politische Klima unserer Gegenwart Bezug nimmt. 

Fragen nach Identität und Geschichte greift Niedling auch in seinen Fotografien und Gemälden auf, die sich mit nationalen Denkmälern, Wahrzeichen und der Flagge als Symbol einer Gemeinschaft beschäftigen. Hierbei scheint ihn das Erwiesene ebenso wie das Spekulative zu interessieren. Das Gemälde Flag Painting (Deutsch Süd-Ost) (2022)etwaverweist auf die Flagge einer fiktiven Bastion weißer Männer in Deutschland, von denen Ingo Niermanns Film Deutsch Süd-Ost (2022) handelt. 

Ausgangspunkt seiner Skulpturen hingegen sind gefundene Objekte. So eignete er sich mit Information Board eine bereits von Spuren des Protests gekennzeichnete Informationstafel an, die er in Erfurt an dem Ort seiner ehemaligen Schuldisco fand, der im Jahr 2021 als Büro der rechtsextremen Partei „Der III. Weg“ genutzt wurde. 

Sven Gatter (*1978 in Halle/Saale, lebt in Berlin/Brandenburg und Kassel) beschäftigt sich in seinen Arbeiten immer wieder mit den Reparaturbemühungen in verschiedenen ostdeutschen Regionen, die bei ihm gleichzeitig Respekt und Skepsis hervorrufen. In seinen neueren Arbeiten scheinen Momente der Ironie auf, die als Versuch Gatters gelesen werden können, mit diesem ambivalenten Gefühl umzugehen.

Mit Ruinen/Modelle (seit 2018) widmet sich Gatter den verschwindenden Architekturen im ländlichen Raum Ostdeutschlands. Die Arbeit konfrontiert eine Serie von Schwarzweißfotografien, in denen ruinenartige Reste von aufgegebenen Ziegelsteingehöften, Landwirtschaftsbetrieben und Militäranlagen sowie das in ihnen zurückgelassene Inventar nur fragmentarisch sichtbar werden, mit Bildern unfertiger architektonischer Modelle aus Brandenburg. Konkret verorten lassen sich die abgebildeten Szenerien nicht, stattdessen betont der Künstler die gefundenen Materialitäten und Ordnungen. 

Bruch (Heeresbekleidungshauptamt Bernau) (2023) greift seine Fotografien von Ruinen wieder auf. Von einem bubbligen, hydraulischen Sound begleitet, erinnert das Video zunächst an eine Tauchexpedition, in der wir uns behutsam einer untergegangenen Welt nähern. Sich in stetiger Suche befindend tastet die digitale Kamera tektonisch zusammengestürztes Mauerwerk ab, wobei Brüche und Risse offengelegt werden. Alsbald wandelt sich der Ton jedoch zu einem Klangteppich, in dem sich elektronische Musik ‒ wie aus einem Kellerclub an die Oberfläche dringend ‒ mit dem stoischen Auftreten schwerer Stiefel zu vermischen scheint. Es ist naheliegend, dass Gatter hiermit auf die Geschichte des von ihm fotografierten Ortes, des Heeresbekleidungshauptamtes Bernau, rekurriert. An diesem stellte einst die Wehrmacht, später die Rote Armee Uniformen her. Nach der Wende feierten dort junge Menschen illegale Technopartys, heute sollen auf dem Gelände Wohnungen für bis zu 4.000 Menschen entstehen – eine Entwicklung, die von heftigen Debatten in der Stadtgesellschaft Bernaus begleitet wird. 

Mit Echo Tektur (seit 2021) hingegen stellt Gatter seinen Fotografien Installationen aus Stützelementen, seifenblasenartigen Gummibällen und an Ziegelsteine erinnernde rosa Bausteine gegenüber, mit denen er wiederum eigene Modelle baut. Dabei ist es kein Zufall, dass er als Material für seine skulptural anmutenden Konstruktionen Styrodur wählt. Einen nicht nur aus dem Modellbau, sondern auch aus der Gebäudesanierung bekannten druckfesten, wie unverrottbaren Dämmstoff, der zugleich in seiner Leichtigkeit und gestapelten Anordnung ephemer erscheint. Seine aus verschiedenen künstlerischen Medien bestehende Rauminstallation lässt sich als Metapher für den Strukturwandel und die Ambivalenz deuten, von der Transformationen stets begleitet sind: Zerstörung und Neuinterpretation.

Eine begleitende Veranstaltungsreihe, in die die Politologin und Psychoanalytikerin Dr. Judith Christine Enders, die Transformationsforscherin Prof. Dr. Melanie Jaeger-Erben, die Museumsleiterin Ulrike Kremeier, der Pädagoge Florian Fischer, die Autorin und Pädagogin ManuEla Ritz, die Schriftstellerin und Journalistin Annett Gröschner, die Schriftstellerin und Dramaturgin Peggy Mädler und die Fotokünstlerin Wenke Seemann eingeladen sind, wird die Themen der Ausstellung mit Workshops, Lesungen und Talks vertiefen. 

Natascha Pohlmann ist 1982 in West-Berlin geboren und lebt heute wieder in Berlin. Sie hat Kunstgeschichte und Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin und Politikwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert sowie zu künstlerischen Verfahren der Aneignung gefundener Fotografien promoviert. Sie ist seit 2020 Mitglied im Team der AFF Galerie Berlin.